Der grosse Otter

It is easier to imagine the end of the world than it is to imagine the end of capitalism.

– Fisher, Mark. Capitalist Realism

Vorwort: Als „kapitalistischer Realismus“ wird eine gesellschaftliche und kulturelle Haltung beschrieben, die den Kapitalismus als einzig mögliche wirtschaftliche und soziale Ordnung betrachtet, wobei alternative Systeme geradezu undenkbar erscheinen. Mark Fisher nimmt in seinem Buch „Capitalist Realism: Is There No Alternative?“ die Auswirkungen einer vollkommen neoliberalen Weltordnung unter die Lupe und zeigt die Schwächen eines kapitalistischen Systems auf.

Jacques Lacan bezeichnet das „große Andere“ (englisch: „big other“) als die symbolische Instanz, die den Glauben an Systeme, Ideologien oder gesellschaftliche Narrative aufrechterhält, selbst wenn einzelne Individuen diesen Glauben verlieren. Dieses „große Andere“ fungiert als ein Konstrukt sozialer Ordnung, als ultimative Autorität oder Bezugspunkt. Während früher Kirche, Traditionen und der Staat diese Funktionen ausübten, konnte uns der kapitalistische Realismus mit Erfolg vorspielen, kein „großes Anderes“ mehr zu brauchen, keine Ideologie zu sein, was zum tatsächlichen Funktionieren unseres Systems führt; die „Naturgesetze“ des Kapitalismus (Wachstum, Arbeit, Wettbewerb, Konsum, etc.) haben sich mit Erfolg festgesetzt, weil das „große Andere“ daran glaubt.

 

Was ist der große Otter?

Der große Otter braucht keine Ruhe, er ist immer wachsam; immer auf der Jagd nach frischer Beute. Egal wohin man geht, er ist da, er ist einen Schritt, nein, zehn Schritte voraus. Will man ihn loswerden, es scheint unmöglich, alternativlos, ganz und gar unvorstellbar. Niemand sieht ihn. Aber niemand glaubt wirklich an ihn, und das ist sein Vorteil; genau deswegen kann der Otter leben.

There is no alternative.

- Thatcher, Margaret

Der große Otter ist gefährlich. Er ist aber so abhängig von uns wie wir von ihm. Er bestimmt unsere Existenz, aber kann nicht existieren, ohne dass wir ihn anerkennen. Seine Präsenz wird nicht mehr hinterfragt, und jeder der es wagt, wird als krank bezeichnet, womöglich sogar als verrückt; was es ihm ungemein erleichtert, uns Stück für Stück aufzufressen.

Der Otter mag nicht perfekt sein, er lässt keinen Platz für andere Lebewesen und verschlingt alles, was ihm widerspricht; aber ist er nicht trotzdem weitaus weniger gefährlich als ein Bär, der uns sofort in Stücke reißen würde? Ja, der Otter mag unschuldige Menschen dem Tod überlassen, Menschen die an Hunger leiden, die krank sind, die nichts haben; aber ist er nicht dennoch ein geringeres Risiko als ein Elefant, der uns alle mit jeder Bewegung zerdrücken würde? Und ja, der Otter lässt jede Individualität, jede Suche nach einem Sinn, als völlig absurd erscheinen, denn der Otter kennt nur das Ganze; und doch ist er besser als eine Schlange, die uns langsam erwürgt.

Ja, es mag sein, dass der Otter nicht vollkommen ist. Doch ist es nicht zu einfach, die Schuld nur bei ihm zu suchen? Ist es nicht unser unersättlicher Konsum, der den Otter füttert? Aber nein, so kann es nicht sein, wir wissen doch genau wie schlecht der Otter ist, und niemals könnte eine einzige Person etwas daran ändern, es ist einfach so. Wir wissen, dass das Geld, das der Otter uns gibt, nur ein wertloses Stück Papier ist, aber trotzdem handeln wir, als hätte es eine heilige Bedeutung. Der Otter hat es geschafft, sein schleimiges Fell durch Menschenhaut zu ersetzen. Und nur die Leute, die den Otter vollumfänglich anerkennen, können von ihm profitieren. Die Anderen haben keinen Platz; sie sind dem Otter für immer ein Dorn im Auge, und er lässt selbst deren Kinder nicht von ihm zehren.

Capital is an abstract parasite, an insatiable vampire and zombie-maker; but the living flesh it converts into dead labor is ours, and the zombies it makes are us.

- Fisher, Mark. Capitalist Realism

Es ist offensichtlich, dass der große Otter da ist; wir können ihn zwar nicht sehen, aber wir spüren seine Präsenz in jeder Bewegung, mit jedem Gedanken. Aber sollte uns nicht beunruhigen, dass der Otter gerade als solch eine Selbstverständlichkeit wahrgenommen wird? Er wird nicht mehr als ideologisches Konstrukt verstanden, sondern als empirischer Fakt, als Notwendigkeit; ein Otter, der sich nicht mehr als Otter darstellt.

Hunger, Armut, Krieg; das gibt es nun mal, und man kann nichts dagegen tun, alles andere wäre wohl naiv. All das muss wohl sein, dass wir überleben; dass der Otter überlebt. Steht er schon über uns? Der Otter frisst und frisst, er denkt nicht darüber nach, sondern möchte immer mehr. Eine nachhaltiges Fressen ist für ihn nicht möglich, es ist sogar entgegen seiner Natur; welche wichtiger scheint als die eigentliche Natur.

Pay for your own exploitation, the logic insists – get into debt so you can get the same McJob you could have walked into if you´d left school at sixteen.

– Fisher, Mark. Capitalist Realism

Der Otter ist weit entfernt davon, ein zahmes Tier zu sein, das wir unter Kontrolle haben. Im Gegenteil scheint es, als würde zunehmend der Otter uns kontrollieren. Dennoch schafft er es, sich selbst als Held der Geschichte zu inszenieren; er weiß, dass die Waren, die wir tagtäglich kaufen, schlecht sind, aber solange es nicht ausgesprochen wird, ist alles gut. Der Otter weiß, dass wir ihm bedingungslos folgen, und er weiß es auszunutzen. Er weiß, dass wir nichts besser beherrschen, als uns von der Wahrheit abzulenken.

So akzeptieren wir also die Präsenz des Otters; wir nehmen das System des großen Otters so hin, wie es ist, es muss richtig sein. So wird man schließlich glücklich, so ist man gesund: man lebt im Magen des Otters, aber man sollte keinesfalls hinterfragen, ob man verdaut wird.

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Ein Grinch in der Kirche