Ein Grinch in der Kirche
„Im Schweiße deines Angesichts wirst du dein Brot essen, bis du zum Erdboden zurückkehrst; denn von ihm bist du genommen, Staub bist du und zum Staub kehrst du zurück.“
Ein lauter Schrei; ich schrecke aus meinem Halbschlaf auf. Unter mir knarzt eine kalte Holzbank, die betagte Frau neben mir wirft mir einen ermahnenden Blick zu. Ich atme tief ein, es sammelt sich ein Gemisch aus Weihrauch und abgestandener Luft in meinen Lungenflügeln. Ausdruckslose Gesichter um mich herum; ich muss in einer Kirche sein.
Ich schaue mich um. Das Publikum, das den Worten des haarlosen Pfarrers lauscht, könnte aus dem nahegelegenen Altenheim ausgebüxt sein. Viele Leute sind es nicht, aber immerhin, und der Priester und seine Gehilfen in ihren weißen Laken scheinen froh darüber zu sein. Wieso auch nicht, schließlich ist Heiligabend.
Das Publikum und ich, nein, ich gehöre nicht hierher, denn ich bin noch nicht tot. Der Mann vor dem Altar spricht ein Gebet, die anderen sprechen ihm in monotoner Stimmlage nach. Sektenartig bewegen die Gläubigen ihre Münder, sie denken nicht nach, sie sagen nur, handeln, aber wissen nicht wieso. Aber handeln, das kann jeder Ochse; das Denken aber ist einzig und allein dem Menschen vorbehalten.
Ich fahre auf; erneut ein Schrei, aber nur ich scheine ihn zu hören. Sind sie denn alle schon taub? Oder wollen sie nicht wahrhaben, was passiert? Sehen sie denn nicht, wie dem Bettler sein allerletztes Stück Brot genommen wird? Bemerken sie nicht das Messer, das in seinen müden Leib dringt? Wollen sie nicht wahrnehmen, welch grauenvolles Schicksal das Kind erleidet? Wie die Frau ausgegrenzt wird, wie die Schlange im Paradies?
Aber nein, das kann doch nicht sein, nicht unser lieber Sohn Gottes! Der war doch immer so brav und hat doch immer so lieb mit den anderen gespielt. In seinem Namen kann nichts Schlechtes passieren, er ist rein wie die Sünden, die er uns weltlichen Gestalten abnimmt. Er ist die Rechtfertigung für alles, nur er kann uns retten, Gott wird’s schon richten, davon sind wir überzeugt, sagen sie. Sie leben in einer heilen Welt, nichts kann ihnen passieren, und das macht sie blind.
Ich blicke nach vorne. Der Pfarrer segnet den Wein und nimmt einen großen Schluck. Dann schreitet er vor den Altar; Menschen stellen sich an. Brot wird verteilt. Nicht an die, die es tatsächlich brauchen, sondern nur an die, die schon satt sind; aber nicht satt genug. Sie glauben, und das ist die einzige Begründung. Sie predigen von Nächstenliebe, aber lieben nur, wer ihnen gleich ist. Aber es ist nicht ihre Schuld, in Österreich ist man Katholik, und damit aus!
Der Pfarrer glaubt, er würde die Menschen lieben; aber die Liebe, die er meint, das ist nur ein Symbol für ihn. Würde er nach der Messe auf den Kirchenplatz hinaustreten, er würde die wenigsten Anwesenden überhaupt wiedererkennen. Kann so Liebe aussehen? Kann so echter Humanismus aussehen? Alle Menschen sollen bewundernswert sein, als Geschöpfe Gottes, aber nur unseresgleichen ist es wert, bewundert zu werden.
Ja, es gibt die Menschen. Das ist es, was der Priester sagen möchte, was Jesus sagen wollte; es gibt die Menschen, und sie allein sind es schon wert. Soll das Mysterium der Messe darin bestehen, nicht Gott, sondern den Menschen zu folgen? Niemand hier ist allein, weil sich niemand allein fühlt.
Genug! Schluss damit! Du störst Gott in seinem eigenen Haus, würde die ältere Dame links neben mir wohl gerne schimpfen. Doch es ist mir egal, wie kann ich sie ernst nehmen? Diese Frau nimmt das Wort Gottes als ihr persönliches Gesetz, und nichts ist ihr wichtiger. Aber sie sieht nicht, dass diese moralischen Werte und Normen, die einst wie ein Kompass durch das harte gesellschaftliche Leben führen sollten, längst nicht mehr aktuell sind.
„Der Engel sagte zu ihnen: Fürchtet euch nicht, denn siehe, ich verkünde euch eine große Freude, die dem ganzen Volk zuteil werden soll: Heute ist euch in der Stadt Davids der Retter geboren; er ist der Christus, der Herr.“
Ja, es mag hart klingen, aber was unterscheidet einen Toten von den Gläubigen in diesem Raum? Ist es nicht als intellektueller Suizid anzusehen, einem unsichtbaren Gott zu huldigen, Gebete mantraartig zu wiederholen und es nicht einmal zu wagen, etwas davon zu hinterfragen? Es wirkt so absurd, aber dennoch scheinen die Menschen vollends zufrieden. Sie haben erkannt, dass sie nichts davon haben, zu zweifeln, also nehmen sie alles so hin, wie es kommt.
Die Kirche ist für sie der einzige wahre Sinn des Lebens geworden. Wie sonst könnten die Gläubigen ihre Existenz rechtfertigen? Alles geht von Gott aus, gäbe es ihn nicht, müsste jeder von ihnen sterben; aber sie erkennen nicht, dass Gott tot ist! Es ist wie ein abgestorbener Grashalm, an den sie sich klammern, inmitten eines Orkans, und sie hoffen, nicht vom Wind davon getragen zu werden.
Das Brot ist verteilt. Die Leute setzen sich wieder, sie lächeln zufrieden. Sie fühlen sich wohl als Gruppe. In einem System wie diesem ist das absolute Individuum, das macht, was immer es will, verpönt und wäre der Blasphemie gleichzusetzen. Niemand muss mehr denken, alle machen das selbe, es ist herrlich, es ist Gottes Wille.
Der Pfarrer spricht noch ein paar letzte Worte, bevor er die Menschen entlässt; hinaus aus dem ästhetischen Ideal, zurück in die Scheiße. Es ist Weihnachten, ich kann mir nur allzu gut vorstellen, wie sie vor ihrem Weihnachtsbaum stehen und singen. Schön geschmückt, mit Kugeln und Kerzen. Ich sehe den Kitsch, mir wird schlecht.
Ich weiß, es stört sie nicht. Das Leid, das Elend, es ist ihnen nicht egal, aber trotzdem gibt es nichts auf dieser Welt, das sie dazu bewegen könnte, etwas zu tun. Der Glauben bewahrt sie vor dem Schlechten, die Leute glauben, um nicht sehen zu müssen.
Sie bauen sich in ihrem Zuhause eine zweite Kirche, beten sogar einen zweiten Gott an, der sie vor allem bewahrt; Dieser Gott ist etwas plastischer. Dieser Gott ist Geld.
„Am Anfang der Genesis steht geschrieben, dass Gott den Menschen geschaffen hat, damit er über Gefieder, Fische und Getier herrsche. Die Genesis ist allerdings von einem Menschen geschrieben, und nicht von einem Pferd. Es gibt keine Gewissheit, dass Gott dem Menschen die Herrschaft über die anderen Lebewesen tatsächlich anvertraut hat. Viel wahrscheinlicher ist, dass der Mensch sich Gott ausgedacht hat, um die Herrschaft, die er an sich gerissen hat über Kuh und Pferd, heiligzusprechen. Jawohl, das Recht, einen Hirsch oder eine Kuh zu töten, ist das einzige, worin die ganze Menschheit einhellig übereinstimmt, sogar während der blutigsten Kriege. Dieses Recht erscheint uns selbstverständlich, weil wir es sind, die an der Spitze der Hierarchie stehen. Es brauchte aber nur ein Dritter ins Spiel zu treten, etwa ein Besucher von einem anderen Planeten, dessen Gott gesagt hätte: „Du wirst über die Geschöpfe der übrigen Gestirne herrschen“, und schon würde die Selbstverständlichkeit der Genesis mit einem Male problematisch. Der Mensch, der von einem Marsmenschen vor einen Wagen gespannt oder von einem Bewohner der Milchstraße am Spieß gebraten wird, wird sich vielleicht an das Kalbskotelett erinnern, das er auf seinem Teller zerschneiden gewöhnt war, und er wird sich (zu spät!) bei der Kuh entschuldigen.“
Miccini erkennt die Religionsfreiheit als Grundrecht an. Miccini möchte somit in keinster Weise die Ausübung der Religion in Frage stellen.