Schweins-Existenz

Sie ist tot. Heute ist sie gestorben, vielleicht auch gestern, ich weiß nicht. Es macht keinen Unterschied. Die Leere, die nun allgegenwärtig ist, erdrückt mich. Aber wieso, frage ich mich, es gibt keinen Grund. Ich sollte die Routine genießen, und nichts anderes tue ich gerade, im Lift dieses wunderschönen Bürogebäudes, in dem alles so shiny und beautiful wie nur möglich ist.

Er fährt hinauf. Wahrlich schön, elf Stockwerke werden angezeigt, elf habe ich noch vor mir. Dann bin ich da, wo ich hin gehöre. Die Verspiegelung der Wände sorgt dafür, dass ich mich von allen Seiten betrachten kann. Ich sehe müde aus. Dritter Stock, kurzer Stopp, der Lift gibt ein unangenehmes Klingeln von sich. Eine weitere Person wird bald einsteigen. Wenig weiß sie von meiner Geschichte, sie wird meine Existenz nur für den Bruchteil einer Sekunde bemerken, bevor sie aussteigen wird und mich schon wieder vergessen hat. Das ist in Ordnung, nichts anderes erwarte ich.

Die Tür öffnet sich, ein Mann steigt ein. Er ist klein, vielleicht einen Meter siebzig, und mittleren Alters. Als ich in sein Blickfeld gerate, nickt er kurz. Seine Augen sind kalt und ausdruckslos, mit dunklen Ringen unterlaufen. Auch in ihm spiegelt sich Müdigkeit; er schleppt drei Kinder mit sich in den Lift, höchstens im Vorschulalter, das Jüngste wohl keine drei Jahre alt. Er hat wohl schon lange keine ruhige Nacht mehr gehabt. Ich mustere ihn nur kurz, aber meine Gedanken schweifen schon bald wieder ab. Früher hätte ich Mitleid mit ihm gehabt, aber heute? Seine seelenlose Gestalt brachte in mir nur noch Ekel hervor, es gab nichts, was ich gut an ihm fand. Der Mann; er lebt, und das weiß er, aber er war eigentlich wie ein Schwein; zu beschäftigt, sich im Dreck zu suhlen, anstatt tatsächlich zu existieren.

Er hat gelebt, der Mann, ich bin mir sicher. Jetzt ist er dem Tod näher, und ich glaube, er merkt es. Aber hat er auch erlebt? Hat er irgendetwas in seinem Leben erlebt? Kann man überhaupt etwas erleben?

Ihre Weisheit empfiehlt, so wenig wie möglich Lärm zu machen, so wenig wie möglich zu leben, sich in Vergessenheit zu bringen.

- Sartre, Jean-Paul. Der Ekel

Nein, nicht der Mann ist wichtig, sondern ich, ich, und ich lebe noch. Außerdem, was könnte es mir schon ausmachen, dass ich nie ein Abenteuer erlebt habe, selbst wenn es wahr wäre. Aber mein Erleben besteht aus Routine, und nichts anderes habe ich gemacht. Ich war süchtig danach. Und ich war süchtig nach dem süßen Anblick des Todes, den dieser Mann ausstrahlte; süchtig nach dem Tod selbst. Jawohl, ich freue mich jedes mal, wenn ich ihm ins Angesicht blicken kann! Ist das nicht der einzige Grund, überhaupt den Alltag zu bestreiten?

Aber jetzt ist alles anders. Mein Alltag ist mit einem Schlag zum Erliegen gekommen, heute, gestern, es war mir egal, es ist vorbei. Mein Leben ist zu absurd geworden, und als endlich der letzte Tropfen der Gewohnheit aus mir verschwunden war, war da nur noch Leere. Diese Leere hat keinen Boden, sie ist wie das Universum, unendlich weit, und irgendetwas daran zu ändern, würde alles ins Lächerliche ziehen. Ich habe der Leere ins Auge gestarrt, und ich komme nicht mehr davon los.

Der letzte angepasste Gedanke hängt noch in mir. Ich höre ihn schreien; er versucht, mich der Routine erneut zum Fraß vorzuwerfen, probiert sein bestes, mich nicht ganz hinauf fahren zu lassen in diesem Lift, möchte mich im sechsten Stock aussteigen lassen, um mich meiner Arbeit nachgehen zu lassen. Aber auch dieser letzte Gedanke hat keinen Zweck mehr, es ist hoffnungslos. Hoffnungslos.

Now you´ve said it. The hopeless emptiness. Hell, plenty of people are on to the emptiness part; out where I used to work, on the Coast, that´s all we ever talked about. We´d sit around talking about emptiness all night. Nobody ever said „hopeless“, though; That´s where we´d chicken out. Because maybe it does take a certain amount of guts to see the emptiness, but it takes a whole hell of a lot more to see the hopelessness. And I guess when you do see the hopelessness, that´s when there´s nothing to do but take off. If you can.

- Yates, Richard. Revolutionary Road

Der letzte Strang der Hoffnung ist tot. Meine Routine, jede Routine, war und ist eine Verhöhnung unseres einzigen Schicksals, und genau das meine ich, wenn ich sage der Mann lebt, aber er existiert nicht; er ist sich der Absurdität seiner Handlungen nicht bewusst. Er möchte sich nicht ergeben, kämpft dagegen an, er hat noch ein loderndes Feuer namens Hoffnung in sich, und ich bin sicher, er wird es bis zum letzten Atemzug in sich tragen. Und sollte ihn die Realität dann schlussendlich doch einholen, werden seine Kinder da sein. Und sie werden die Hoffnung auch nicht verlieren; auch sie werden sich in endlosen Handlungen verstricken, um der Absurdität ja nicht die Tür auch nur einen spaltbreit zu öffnen. Denn gibt man ihr eine Chance, wird man sie nie mehr los.

Aber ich existiere. Doch ich werde aus meinen Gedanken gerissen; es klingelt erneut, achter Stock. Ich weiß, dass der Mann mit seinen drei Kindern nicht aussteigen wird, also muss ein neuer Darsteller in unsere kleine Vorstellung eintreten. Und was für einer. Als sich die Tür öffnet, sehe ich nur einen kolossalen Körper, der Kopf tritt erst in Erscheinung, als sich der Mann duckt und sich zu uns in den Lift gesellt. Vielleicht der größte Mensch, den ich je gesehen habe, denke ich.

Der Mann mit seinen Kindern sagt nichts, aber die drei Kleinen drücken sich enger an ihren Vater; sie scheinen Angst vor dieser riesigen Gestalt zu haben. Doch auch der große Mann ekelt mich an, er sieht mich nicht an, ganz in schwarz gekleidet, hört Musik über seine Kopfhörer. Außer seiner Größe hat er nichts, er passt doch perfekt in dieses Gebäude; solange die Inszenierung passt, ist alles egal. Auch er klammert sich an die Hoffnung, möchte nichts von einer Leere wissen; auch er wird sagen Mein Leben hat den Sinn, den ich ihm gebe, ahnungslos ob der Absurdität seiner Gedanken. Auch er ist ein Schwein, das nicht weiß, dass es zur Schlachtbank geführt wird, und noch schön freudig herumgrunzt!

Ich bin gemein, aber es ist mir egal. Zehnter Stock. Gleich ist es soweit. Doch dann passiert etwas, mit dem niemand von uns gerechnet hat, man sieht es uns allen an.

Es war mir bisher nicht aufgefallen, aber das kleinste dieser drei Kinder hat wohl einen furchtbaren Schnupfen. Erbärmlich. Auch dem Vater war es egal. Aber dem riesigen Mann nicht. So furchteinflößend er auf die Kinder auch wirken mag, und er muss sich dessen bewusst sein, es macht ihm nichts aus. Er blickt auf dieses kleinste, zerbrechliche Wesen, und er scheint einen Anflug von Mitleid zu haben, denn er öffnet seine Jackentasche und holt ein Taschentuch heraus. Als er es dann in seinen ebenfalls riesigen Fingern hält, zögert er einen Moment. Ich sehe ihm an, er weiß nicht, wie er vorgehen soll. Er bemerkt meine Blicke und sein Kopf wird rot, es ist ihm peinlich! Aber er gibt nicht auf, und schließlich fasst er all seinen Mut zusammen und beugt sich zu dem Kleinen hinunter. Er berührt ihn leicht auf seiner Schulter, das Kind dreht sich um und sieht in mit großen Augen an. Der Mann, mittlerweile nicht nur mit hochrotem Kopf, sondern auch noch mit einem unsicheren Grinsen auf den Lippen, streckt ihm das Taschentuch entgegen. Das Kind sieht ihn noch immer an. Stille. Elfter Stock. Gleich wird es wieder klingeln, bitte.

Endlich hat der Vater mitbekommen, was sich abspielt. Er lächelt den großen Mann, der gar nicht mehr groß erscheint, an, nimmt ihm das Taschentuch ab und gibt es dem Kleinen. Der Riese, offensichtlich erleichtert, richtet sich wieder auf und atmet schwer durch. Er ist stolz, geholfen zu haben. Dann klingelt es.

The key to being happy isn´t the search for meaning, it´s to just keep yourself busy with unimportant nonsense, and eventually you´ll be dead.

- Bojack Horseman

Es ist, als würde ein Blitz in mich einfahren. Habe ich diesen Leuten Unrecht getan? Vor ein paar Momenten waren sie für mich wie leere Hüllen, ich war überzeugt, nichts davon konnte mich zum Umdenken bewegen. Aber jetzt? Schlagartig wurden sie mit Existenz befüllt. Die Handlung dieses Mannes, sie hat alle zum Leben erweckt, und sie hat ihn glücklich gemacht.

Ich weiß nicht mehr was ich denken soll. Nein, es wäre falsch zu sagen, dass die Hoffnung wiedergeboren wurde; aber sie ist auch nicht mehr ganz so tot. Die Tür öffnet sich, der große Mann, der Vater und seine drei Kinder steigen aus. Ich bin abgelenkt, ich kann nicht mehr an die Hoffnungslosigkeit denken, die Leere ist weg, und so etwas wie Absurdität schien es nie gegeben zu haben. Ich schaffe es nicht mehr, auszusteigen; ich bleibe. Da dreht sich das kleinste Kind noch mal um, sieht mich an und zwinkert mir mit einem Lächeln zu, bevor es um die Ecke geht und verschwindet.

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Ein Grinch in der Kirche

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