Langusten-gedanken

Es war sieben Uhr morgens. Ich öffnete die Wohnungstür und trat hinaus auf den Hausflur. Ich schloss hinter mir ab, drehte den Schlüssel dabei zwei Mal um, nur um sicherzugehen. Dann drehte ich mich um und schritt den Gang entlang; währenddessen hörte ich aus der Wohnung von Nachbar Nr. 1 laute Schmatz- und Kaugeräusche hinausdringen, er schien gerade zu frühstücken. Vier Spiegeleier und sehr viel Speck, und das jeden Tag, hatte er mir vor kurzem erzählt. Ob er nicht einmal etwas anderes probieren möchte, wollte ich ihn fragen, aber ich habe es dann gelassen. Ich gelangte zu den steilen Treppen und ging rasch hinunter, habe versucht, mit der Mutter aus dem ersten Stock den Augenkontakt zu vermeiden, während sie ihren sechsjährigen Sohn schimpfte. Er schien vergessen zu haben, seine Schultasche zu packen; so ein Pech auch, aber es machte ihm scheinbar nicht viel aus, denn er schenkte seine Aufmerksamkeit viel eher den Tauben, die durch das offene Fenster im Stiegenhaus blickten. Sie nisten dort, hatte der Hausmeister gesagt. Ich war skeptisch, aber es ging mich ja doch nichts an.

So kam ich also endlich im Erdgeschoß an, zu der schweren Eingangstür. Ich zog sie auf, und sie quietschte. Darum sollte sich der Hausmeister viel eher Gedanken machen. Aber egal, denn schon schlug mir der kalte Novemberwind entgegen. Als ich draußen ein paar Meter vor dem Haus stand, drehte ich mich noch kurz um und betrachtete die Schönheit dieser dunkelgelben Altbaufassade. Vor ein paar Minuten war mir noch schön warm, ich war im Inneren dieses Gebäudes unter einem großen Haufen von Decken und Polstern, und meine einzigen Sorgen waren meine Träume; aber es waren doch nur Träume, und jetzt hat mich die Realität mit aller Kraft wieder in ihren Bann gezogen, der kalte Wind erinnerte mich daran. Sicher, am liebsten wollte ich wieder hinein. Aber es ging nicht. Ich hatte zu tun. Also knöpfte ich meinen Mantel zu, zog meine Mütze tief ins Gesicht und ging dem Alltag entschlossen entgegen.

Der Weg zur U-Bahn-Station war nicht weit, zum Glück. Ich ging vorbei an Kaffeeläden, an Modegeschäften, an nicht sehr vertrauenserweckend aussehenden Imbissen mit greller Leuchtreklame. Ich ging auch an Menschen vorbei, manche telefonierten, manche redeten miteinander, andere wiederum warfen mir einfach nur böse Blicke zu während sie an mir vorbei gingen, scheinbar ohne Grund. Ich war immer der Annahme, diese Menschen waren schlecht, denn was konnte ich denn dafür (für was auch immer); aber es konnte mich keine Sekunde lang stören, denn ich wusste nichts über diese Menschen, und sie nichts über mich, und es war wohl auch besser so.

Viele Männer, die mich passierten, trugen teure Anzüge, und viele Frauen trugen schönen Schmuck, und viele Kinder gab es auch, die wirr umher schrien und sich ob ihrer Größe nahezu perfekt in jede noch so volle Bahn drängen konnten. Aber zu beneiden waren sie nun wirklich nicht, sie mussten den ganzen Tag in der Schule sitzen und mussten fragen, ob sie essen und trinken durften. Schließlich erreichte ich die Station, und es kam die lange Rolltreppe, die in den Untergrund führte. Unten wartete schon eine Bahn, die gerade ihre Passagiere entlud, und ich schaffte es noch rechtzeitig hinein. So stand ich da und wartete noch einige Momente, bis der Waggon bis zum Anschlag voll war. Dann setzten wir uns in Bewegung.

Da waren wir also. Wir, ja. Denn ein ich gab es hier nicht mehr, die einzelnen Menschen verschmolzen zu einer großen, klebrigen Masse, und an jeder neuen Station löste sich etwas von diese Masse, aber es kam auch wieder neue Masse hinzu. Wir, die vielen Individuen; Denn wenn jeder anders ist, ist dann nicht trotzdem jeder gleich?

Da war der alte Mann, der auf einem der wenigen Sitze saß und ab und zu hustete und dabei eine Gratiszeitung las. Wenn man ihm dabei zusah, wie er die Seiten umblätterte, und mit diesem ausdruckslosen Blick die Zeilen las, konnte man unmöglich sicher sein, ob er überhaupt lesen konnte. Da war die Frau mit Kinderwagen, die genau neben mir stand. Das Kind darin schien zu schlafen, doch als ich kurz hineinblickte, schrie es sofort los, und die Frau musste es in den Arm nehmen und beruhigen. Es störte mich ein bisschen. Da war dann auch noch die Frau mit Hund, ein kleines sehr haariges Tier, und man sah dessen Augen nicht wegen den tief hängenden Stirnfransen, und ich fragte mich, ob es überhaupt irgendetwas sehen konnte. Aber der Frau war es egal, sie hatte nur Augen für ihr Smartphone, der Hund hätte davon laufen können, sie hätte es nicht gemerkt. Es waren selbstverständlich noch andere Menschen da, aber wie gesagt, schlussendlich eine Masse, und es wäre müßig, sie alle durchzugehen, auch ein bisschen Zeitverschwendung. Aber eins noch: Da war ich. Ich, ein kleiner, fast mit bloßem Auge nicht zu erkennender Teil des großen Ganzen.

Wir standen alle in der U-Bahn, und hatte ich mich nicht gerade über die ausdruckslosen Augen des alten Mannes beschwert? Wie ausdruckslos mögen wohl meine Augen für andere sein? Wie sehr mag ich andere stören? Aber es war mir nicht wichtig, denn schämen würde ich mich nicht. So eine hohe Meinung von den Menschen um mich herum hatte ich nicht, dass mir daran gelegen war, was sie von mir dachten. Und es war auch egal; und als ich so darüber nachdachte, fragte ich mich trotzdem, was die anderen denken mögen. Mir fiel ein Gedicht ein, ich weiß nicht mehr von wem, aber es war schön und es ließ mir keine Ruhe.

Menschen. Sie machen mich krank. Die Routinen, sie gleichen dem Tod. Jeder von ihnen hat das selbe Ziel. Keine Individualität, keine Ruhe.
Ich, irgendwo zwischen Leben und Tod. Eher leben, denn solange ich tue, lebe ich. Tun, meine Routine. Vielleicht doch eher Tod?

Vielleicht kein Gedicht, aber es stimmt wohl; die Routine, die Gewohnheit, sie brachte uns täglich ein Stück näher ans Ende. Aber nicht jetzt, das war mir bewusst. Also, was denken die anderen denn nun? Ich würde sie nicht fragen, auch wenn es mich noch so brennend interessierte, das war mir klar, das wäre fast schon verrückt. Ich würde die heilige Ordnung der Routine stören. Was hatte ich denn auch für einen Grund zu fragen? Aber ich hätte schon recht; Ich würde fragen, und damit hätte ich recht. War das wirklich so verrückt? War es so absurd? Nein, aber es wäre trotzdem ein Verbrechen, das man in keinem Strafgesetzbuch der Welt finden würde; das Verbrechen war die Störung der sozialen Ordnung durch das Infragestellen der vorherrschenden Normen, denn genau das war es. Und so etwas konnte nicht verziehen werden.

Also musste ich raten. Und darin war ich eigentlich nicht besonders gut, aber ich konnte ganz gut ein Urteil über andere fällen (ob es fair war oder nicht war eine andere Frage), und so urteilte ich. Der alte Mann mit seiner Zeitung, die Frau mit Kind im Arm, die andere Frau mit ihrem Hund. Wussten sie überhaupt, dass sie existieren? Die Ausdruckslosigkeit der Menschen erinnerte mich an ein wildes Tier, hier, um zu überleben, nicht um zu leben. Ihre Gedanken waren wie Langusten, die über den Boden des Meeres kriechen und keine tieferen Einsichten gewinnen; sie kratzten nur an der Oberfläche, aber zu mehr waren sie nicht imstande. Ich weiß, es ist wohl zu hart, denn ich weiß ja, ich bin so wie sie. Tief im Inneren sind wir alle gleich und alle dumm, und ich war keine Ausnahme. Also zog ich mein Handy aus der Hosentasche und tauchte ein in meinen Alltag, während ich wieder eins mit der Masse der Individualisten wurde.

Der selbe Weg, das selbe Tun, die selbe Nahrung, die selben Gespräche. Jeden Tag, immer aufs Neue. Ein goldener Käfig. Ich schaue zurück auf mein Leben und frage mich: Habe ich gelebt? Nein, dazu blieb keine Zeit.

Es war ein langer Arbeitstag, und ich konnte erst um zwei Uhr nachmittags Mittagspause machen. Während ich also da draußen vor dem großen, gläsernen Bürogebäude saß und mir die Wintersonne ins Gesicht schien, dachte ich schon lange nicht mehr an die U-Bahn-Fahrt. Sie war nichts weiter als irgend ein Erlebnis in der Vergangenheit, und man musste vorwärts schauen und nur keinen Gedanken an früher verschwenden, sagten die Leute. Klar, es verunsicherte mich noch immer, aber was brachte es mir schon. Da würde mir der Appetit auf das gebratene Hühnchen vor mir nur vergehen, wenn ich zu viel nachdenken würde.

An mir vorbei bewegten sich gestresste Kolleginnen, telefonierende Menschen, manche redeten miteinander, wieder andere warfen mir böse Blicke zu (ich verstand noch immer nicht wieso). Am liebsten würde ich für immer hier sitzen, diesen Moment genießen; das Hühnchen schmeckte, die Sonne war wundervoll warm. Aber es ging nicht. Ich hatte zu tun. Also knöpfte ich meinen Mantel zu, zog meine Mütze tief ins Gesicht und ging dem Alltag entgegen.

 

Vielleicht liegt die Schönheit des Alltags gerade in seiner Absurdität?

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Schweins-Existenz