Inszenierungs-Demokratie
Wien, Österreich. Das Jahr 2025 war gerade einmal vier Tage alt, da platzte die erste politische Bombe: Bundeskanzler Karl Nehammer musste zurücktreten, nachdem seine ÖVP nach den gescheiterten Koalitionsverhandlungen mit der SPÖ und NEOS keine andere Möglichkeit mehr hatte, als mit der Freiheitlichen Partei Gespräche zu führen. Damit hatte Nehammer sein primäres Wahlversprechen gebrochen, Herbert Kickl unter keinen Umständen zum Regierungschef zu machen, und musste unter riesiger Enttäuschung der ÖVP-Wählerinnen seinen Platz räumen. Dass die FPÖ schlussendlich doch nicht den Kanzler stellte, ist wohl weniger der ÖVP als dem nicht existenten Verhandlungsgeschick der Freiheitlichen zu verdanken.
Dennoch bleibt ein fader Beigeschmack, denn die Volkspartei hat die Wählerinnen nicht nur belogen, sondern geradezu hintergangen, ihr wichtigstes Versprechen nicht gehalten; scheinbar nur für den eigenen Machterhalt. Da ist es nur allzu verständlich, dass sich viele Menschen mittlerweile fragen, wie viel ihre Stimme tatsächlich wiegt. Geht das Recht tatsächlich noch vom Volk aus, oder doch nur von ein paar wenigen? Wer hat überhaupt die tatsächliche Macht in Österreich?
Blicken wir auf eben jene Entscheidung der ÖVP, die Koalitionsgespräche mit der SPÖ (die NEOS waren schon ausgetreten) zu beenden; treibende Kraft hinter dieser Entscheidung war nämlich der konservativ-libertäre Wirtschaftsflügel der Volkspartei, dem eine Bankenabgabe untragbar erschien, da konnte man sich noch besser mit einem rechtsextremen Bundeskanzler abfinden. Jener Wirtschaftsbund stellt sich als Interessenvertretung der Unternehmerinnen in Österreich dar; sein Ziel ist eine starke Wirtschaftsleistung, die laut eigener Webseite mit einem Wohlstand der Gesamtbevölkerung einhergeht.
Dass dies nicht der Fall ist, zeigt zB die Ölpest im Golf von Mexiko im Jahr 2010. Obwohl der Austritt von rund 800 Millionen Liter Öl eine der schwersten Umweltkatastrophen überhaupt ausgelöst hat, wodurch hunderttausende Menschen wegen gesundheitlicher Risiken umsiedeln mussten und ihre Lebensgrundlage verloren haben (ganz zu schweigen von den ökologischen Auswirkungen), stieg das Wirtschaftswachstum durch Aufräumarbeiten und Gerichts- und Versicherungszahlungen enorm an (zu Wohlstand und Wirtschaftswachstum siehe https://www.miccini.com/journal/wohlstand-fuer-alle).
Der Wirtschaftsbund versteckt sich also hinter der Fassade des Wohlstands. Das eigentliche Ziel bleibt aber ganz einfach ein wirtschaftlicher Anstieg ins Unendliche; die Kosten dafür werden von der Umwelt und von sozial schwachen Personen übernommen. Dass unendliches Wachstum mit endlichen Ressourcen aber nicht funktioniert, sollte eigentlich logisch sein. Außerdem erzeugt „Wachstum um jeden Preis“ auch für Politikerinnen den Druck, zwingend alles marktkonform zu gestalten, da sie genau daran bewertet werden. Alle anderen Belange werden somit automatisch hinten angestellt. Die Interessen weniger vermögender Menschen haben also bei dem ersten Versuch der Regierungsbildung überwogen; weil diese es sich ganz einfach leisten konnten, mitzureden.
Doch was macht die politischen Führungskräfte überhaupt so anfällig für die Stimmen aus der Wirtschaft, für die Rene Benkos, Siegfried Wolfs & Co.?
Politikerinnen, man mag es kaum glauben, sind oftmals gar nicht so talentiert, wie sie des Öfteren vorgeben. Vor allem in Hinblick auf berufliche Perspektiven stehen nach der politischen Karriere keine rosigen Zeiten ins Haus, würde man nur von der Ausbildung so mancher Entscheidungsträgerinnen ausgehen. Korruptions-Kanzler Kurz etwa hat als höchsten Bildungsabschluss die Matura vorzuweisen, sein Jus-Studium hat er abgebrochen. Akademisch ähnlich erfolgreich ist Kanzleramtsministerin Claudia Plakolm, die schon satte elf Jahre Wirtschaftspädagogik studiert. Der ehemalige rote Bundeskanzler Werner Faymann hat auch ein Studium der Rechtswissenschaften begonnen, lenkte aber schlussendlich öfter ein Taxi, als er tatsächlich Prüfungen schrieb. Immerhin hat Herbert Kickl nach seinem abgebrochenen Philosophiestudium Einsicht gezeigt und offen zugegeben, dass er nichts könne, als er sich bei der FPÖ-Parteizentrale vorgestellt hat.
Außerdem haben Politikerinnen auch das Problem, dass eine Abweichung von der inhaltlichen Parteilinie nicht sehr gerne gesehen wird. Es folgt der Entzug der Parteimitgliedschaft, was auch mit einem sicheren Verlust des politischen Mandates einhergeht. Ohne Parteiliste wird die Wiederwahl so gut wie unmöglich. Gepaart mit den Chancen auf dem Arbeitsmarkt kann das schnell existenzbedrohende Ausmaße annehmen. Wer überleben will, passt sich an.
Viele weitere beunruhigende Motive haben sich in der Realpolitik herauskristallisiert – vom „Drehtüreffekt“ (Politikerinnen wechseln direkt nach der Amtszeit in die Wirtschaft, aus der Wirtschaft kommen wieder neue Leute in die Politik) über Parteienfinanzierung bis hin zu fragwürdigen Spenden von nicht rückverfolgbaren Vereinen. Schließlich gibt es noch einen Punkt, der wohl am offensichtlichsten ist. Politikerinnen sind zuallererst auch nur Menschen. Und diese Spezies hat es leider so an sich, möglichst viel Macht ansammeln zu wollen. Denn Macht schafft Sicherheit, schafft Geld; und zu viel davon macht schlussendlich korrupt.
Es folgt daraus eine zwangsläufige Anbiederung an jene Leute, die der Politikerin auch nach ihrer staatstragenden Tätigkeit ein gutes Einkommen verschaffen können. Und dass das meist eine höchst vermögende Person ist, ist klar. Diese hat erstens die Möglichkeit, überhaupt erst Kontakte mit der Politikerin zu knüpfen, und zweitens kann sie ihr ein hoch dotiertes Angebot machen, welches oft nur schwer abgelehnt werden kann. So verfügt also die Wirtschaft faktisch über weit mehr Macht als das Volk selbst, auch wenn dieses noch immer an der Wahlurne eine andere Entscheidung treffen kann. Doch sind die Bürgerinnen wirklich so frei in ihrer Wahl?
Peter Hochegger, langjähriger Lobbyist und Mitangeklagter im BUWOG-Prozess rund um Ex-Finanzminister Karl-Heinz Grasser, spricht gerne von einer „Inszenierungsdemokratie“. Das Volk sitzt im Theater und sieht zu, während die Politikerinnen auf der Bühne das machen, was sie eben so machen – sie spielen etwas vor.
Bestes Beispiel für eine totale Inszenierung bringt US-Präsident Donald Trump. Der Sohn eines Multimillionärs hat eher durch seine Auftritte als Reality-Star in „The Apprentice“ und bei diversen Wrestling-Shows Berühmtheit erlangt, als durch seine oft in die Insolvenz schlitternden Unternehmen. Durch seine schauspielerische Vorerfahrung versteht er es perfekt, konstant Aufmerksamkeit zu generieren. Sei es durch verschiedenste Fake News, die er wissentlich auf Social Media verbreitet, oder durch wirre Aussagen über seine politischen Gegnerinnen; Trump weiß, dass sich Fakten weitaus schlechter verkaufen als unrealistische Ankündigungen oder gefährliche Drohungen. Ein weiteres Beispiel bringt der argentinische Präsident Javier Milei, der, um seine Entbürokratisierungspläne darzustellen, vor dem Publikum mit einer Kettensäge hantierte. Dass sich solche Darstellungen auf TikTok besser vermarkten lassen, als trockene Tatsachen, ist offensichtlich. Auch die FPÖ ist im Internet weitaus stärker präsent, als alle anderen Parteien, der hauseigene YouTube-Kanal FPÖ-TV hat durch propagandaähnliche Videos mittlerweile fast 250.000 Abonnenten.
Es geht nicht mehr um die echte Politikerin, sondern darum, was sie vorgibt zu sein. Vernünftige Stimmen haben kaum noch Einfluss, während die, die am lautesten schreien, auch gehört werden. Die Überflutung von Informationen durch soziale Medien macht es den Menschen auch nahezu unmöglich, echte und falsche Nachrichten voneinander zu unterscheiden, was der Inszenierung ihre Perfektion verleiht. Man weiß nicht mehr, ob man überhaupt im Theater sitzt.
So schließt sich der Kreis. Die Inszenierung einer Politikerin führt zu einer Wahl, in der niemand mehr weiß, wer wirklich gewählt wird; Parteilisten werden im Hinterzimmer besprochen, bedingungslose Loyalität wird weitaus stärker gewichtet als neue Ideen, die den Bürgerinnen tatsächlich helfen könnten. Nach der Wahl inszeniert die Politikerin weiter für das Volk tätig zu sein, obwohl das oft nicht der Fall ist. Gesetze werden nicht mehr in den Parlamenten beschlossen, sondern von Lobbyisten und der Exekutive, die ihren Lakaien auftragen, wie sie abzustimmen haben. Wer sich widersetzt rutscht in die politische Existenzlosigkeit ab. Die Inszenierung eines demokratischen Systems, Menschen wählen Vertreterinnen, die sie nicht vertreten. Ein Kreislauf, der nicht gebrochen werden kann?
Fest steht, dass die Demokratie tatsächlich wieder eine „Herrschaft des Volkes“ werden muss. Eine Art von Bürgerinnenräten wäre ein vieldiskutierter Lösungsvorschlag. Mit Bürgerinnen, die aus den verschiedensten Gesellschaftsschichten kommen, von unabhängigen Expertinnen zu den jeweiligen Themen beraten werden und dann eine gemeinsame und faire Entscheidung für alle treffen. Diese Räte dürften aber nicht neben dem Parlament in einer gewissen Parallellegitimität bestehen, sondern müssten unmittelbar in den Gesetzgebungsprozess eingebunden werden. Und das nicht nur als Beratungsorgan, sondern aktiv, um intransparente und gesellschaftswidrige Gesetze ablehnen und selbst Vorschläge einbringen zu können.
Weniger als die Hälfte der österreichischen Staatsbürger sind tatsächlich zufrieden mit dem politischen System (43%), im unteren Einkommensdrittel glauben nur noch rund 20% daran, dass ihre Probleme und Anliegen ernst genommen werden. Genauso viele wünschen sich auch einen „starken Führer“ zurück. Dass dieser Zustand nicht länger bestehen kann, sollte außer Frage stehen, trotzdem denkt niemand daran, das System ein wenig umzustellen – was wiederum daran liegt, dass die Personen, die etwas ändern könnten, daran scheinbar kein Interesse haben. Durch die starken Einflussnahmemöglichkeiten des wohlhabendsten Prozents kann auf indirekt demokratischer Ebene nichts umgesetzt werden, was genau dieser Bevölkerungsgruppe vielleicht etwas schadet, dafür aber der Mehrheit der Österreicherinnen hilft. Da darf es auch nicht verwundern, wenn die Leute reihenweise vom Glauben an unser System abfallen.
Die tatsächliche Entscheidungsfähigkeit des Volkes ist faktisch eingeschränkt, wie frei sind wir wirklich, wie sehr können wir mitbestimmen? Macht es überhaupt Sinn, zur Wahl zu gehen, wenn eine Repräsentantin gewählt wird, die die Wählerinnen nicht repräsentiert? Fest steht aber auch, dass nicht jede Politikerin bloß an ihr eigenes Wohl denkt; eine Pauschalisierung ist wie überall nicht möglich. Dennoch fallen die schwarzen Schafe derzeit einfach mehr auf. Aber das lässt sich ändern.
Es geht um die Demokratie, um Österreich und um die ganze Welt. Es geht um ein neues System, das die Welt tatsächlich zu einem besseren Ort macht. Um ein Miteinander anstatt uneingeschränktem Konkurrenzdenken, um Umwelt statt Zerstörung, um eine gerechte Zukunft statt einer rücksichtslosen Gegenwart. Die Wirtschaft sollte immer vom Menschen abhängig sein – nicht umgekehrt. Ein Systemwandel ist nicht nur möglich, sondern absolut notwendig.
Denn es geht um uns.
Bauer, Gernot; Treichler, Robert. Kickl und die Zerstörung Europas (2024)
https://foresight.at/news/demokratie-und-nationalratswahl
https://orf.at/stories/3379330/
https://orf.at/av/video/onDemandVideo8086
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https://www.diepresse.com/18343737/dem-rat-von-buergerinnen-und-buergern-eine-chance-geben
https://www.diepresse.com/19552564/ploetzlich-nicht-mehr-kanzler-wohin-es-politiker-verschlaegt
https://www.wirtschaftsbund.at/ueber-uns/
https://www.zeit.de/wissen/umwelt/2010-08/bp-oelloch-leck-verzoegerung