Wohlstand für alle?
Wien, Österreich. Wohlstand, ein schönes Wort. Wahrscheinlich, weil man sich so viel darunter vorstellen kann. Wer an Wohlstand denkt, fühlt sich eben wohl. Man mag an ein knisterndes Kaminfeuer am ersten kalten Wintertag denken, an die warme Bettdecke am frühen Morgen, an Geborgenheit. Deshalb ist es wohl auch so ein beliebtes Wort, vor allem bei Politikerinnen.
Man kann es gut im Wahlkampf verwenden und den Wählerinnen sagen, für mehr Wohlstand im Land sorgen zu wollen, wie es zB Herbert Kickl, der im Jahr 2023 gar eine „Vernichtung des Wohlstandes durch die Regierung“ erkennen wollte, getan hat. Man kann aber auch als fest im Sattel sitzender Wirtschaftskammerpräsident den Menschen damit drohen, dass weniger Arbeitsleistung zu weniger Wohlstand führen würde. Oder man dankt den armen Milliardären für den Wohlstand in Österreich, denn laut ÖVP-Nationalratsabgeordneter Carmen Jeitler-Cincelli könne es nur der gesamten Bevölkerung gut gehen, wenn es „einigen wenigen sehr, sehr gut gehe“.
Man sieht, auch beim Wohlstand geht es schlussendlich ums Geld. Wohlstand und wirtschaftliches Wachstum scheinen Hand in Hand zu gehen. Doch ist das überhaupt richtig? Wenn in Medien von der österreichischen Wirtschaftslage zu lesen ist, steht oftmals, dass der Wohlstand gemeinsam mit dem Bruttoinlandsprodukt abnimmt. Doch wieso wird nur die finanzielle Situation beleuchtet? Kann Wohlstand auch ein Mädchen sein, das mit dem Fahrrad zur Schule fährt?
Einen Vorteil hat das BIP ja für Politikerinnen: es ist leicht messbar, leicht festzustellen. Was aber noch lange nicht heißt, dass es aussagekräftig ist. Dass der Gesamtwert aller in einem Land produzierten Waren und Dienstleistungen nicht auf das Wohlbefinden der Menschen Bezug nimmt, ist doch eigentlich verständlich. Der normalen Bürgerin bringt eine minimale Steigerung des BIP überhaupt nichts, davon kann sie sich nichts kaufen. Vielmehr gibt es oft zahllose andere Faktoren, die weitaus mehr Bedeutung für die Einzelne haben, zB die Menschenwürde, soziale Gerechtigkeit, ökologische Nachhaltigkeit, Transparenz und Mitentscheidung. Wohlstand nur über das wirtschaftliche Wachstum zu definieren, ist also falsch.
Ein Anfang zu einem etwas laienhaft formulierten, aber weitaus umfangreicheren „Index“ als das BIP wäre ein Mädchen, das mit dem Fahrrad zur Schule fährt. Es werden dabei nämlich mehrere Aspekte einer Gesellschaft symbolisiert, die tatsächlichen Wohlstand ausmachen. Neben Bildungschancen und Geschlechtergerechtigkeit (dargestellt durch das Mädchen, das zur Schule gehen darf) wird eine funktionierende und umweltfreundliche Infrastruktur vorausgesetzt (Radfahren ist möglich), Sicherheit und gesellschaftlicher Frieden (Schulweg, Radfahren, Mädchen kann sich frei fortbewegen) sind ebenso relevant wie Nachhaltigkeit (Rad) und wirtschaftliche Teilhabe (durch Schule/Bildung ermöglicht). Im Gegensatz zum BIP, das ausschließlich die finanzielle Lage aufzeigt, wäre dieser Gedanke wohl ein Schritt in die richtige Richtung; weg vom Geld, hin zu den Menschen.
Außerdem ist im Bruttoinlandsprodukt einzig und allein das Kapital sichtbar, das durch Lohnarbeit geschaffen wird. Dass daneben noch unzählige weitere Formen von Arbeit existieren, wie zB Hausarbeit, Kinderbetreuung, aber auch Subsistenzarbeit von Landwirten, wird nicht berücksichtigt. Dieser Logik zufolge würden Frauen weitaus weniger zum Wohlstand in Österreich beitragen, da diese zwar rund doppelt so viel unbezahlte Care-Arbeit wie Männer übernehmen, dies aber eben nicht ins BIP einfließt, was schließlich eine ungleiche und frauenfeindliche Gesellschaft fördert.
Und man muss sich schon fragen, was es heißt, dass zum Wohlstand ausschließlich das BIP zählt; dass wirtschaftliches Wachstum in unserer Gesellschaft über allem anderen steht. Denn ein unendliches Wachstum ist nicht möglich, die Ressourcen unseres Planeten sind begrenzt. Es braucht also eine neue Definition von Wohlstand. Und die könnte durch einen „Gemeinwohl-Index“ gelingen, in den verschiedenste Werte einfließen, von sozialer Gerechtigkeit über Gesundheit bis hin zur Lebensqualität (ähnlich dem Mädchen, das mit dem Fahrrad zur Schule fährt). Wirtschaftliches Wachstum wird zwar nicht ausgeschlossen, allerdings kann es nicht mehr das vorrangige Ziel sein.
Es mag Menschen geben, die diese Ideen für utopisch halten. Zu wichtig sind die Gewinne von Unternehmen, zu schwer wiegt die Eigentums- und Erwerbsfreiheit. Doch dabei wird übersehen, dass ein Systemwechsel weg vom absoluten Kapital- und Konkurrenzdenken hin zu einer sozialen und ökologischen Lebensweise der einzige noch mögliche Schritt ist, den wir machen können. Die Demokratie verliert Tag für Tag mehr an Legitimität, was vor allem daran liegt, dass das Volk kaum eine Parlamentarierin, die eigentlich die Bevölkerung vertreten soll, noch für integer hält. Wie sollte es auch anders sein, wenn sich diese nicht für die normalen Wählerinnen, sondern nur für die Reichsten einsetzt? Hass wird geschürt, weil jeder um das eigene Überleben kämpfen muss. Wie sollen die Menschen wieder Vertrauen in die Demokratie erlangen, wenn es ihnen durch populistische Maßnahmen schlussendlich noch schlechter geht? Wenn sie vielleicht irgendwann den Milliardären höchstpersönlich dafür danken müssen, in einer einzigen Ausbeutungsmaschinerie zu leben, ohne jemals frei sein zu können? Ohne jemals zu tatsächlichem Wohlstand zu gelangen?
Wäre es zu viel verlangt, als Ziel einen gesunden Planeten und eine funktionierende Gesellschaft für alle Menschen zu verfolgen? Eine Welt, in der Wirtschaft im Einklang mit ethischen Werten steht? Fest steht, dass die Wirtschaft dem Gemeinwohl dienen muss. Wir befinden uns nun an einem Punkt, an dem wir abbiegen müssen. In welche Richtung, das kann jede Person selbst entscheiden, gemeinsam ist alles zu schaffen. Damit Wohlstand für alle möglich ist. Damit in Zukunft alle Mädchen auf einem Fahrrad zur Schule fahren können.
Testen Sie, wie viel Sie für das Gemeinwohl machen:
https://selbsttest.ecogood.org/
Es ist höchst ratsam, die folgenden Seiten zu besuchen, um mehr über „Beyond GDP“ und den Gemeinwohl-Index zu erfahren:
Weitere Quellen:
https://www.oecd.org/en/topics/well-being-and-beyond-gdp.html
https://www.weforum.org/stories/2016/04/why-economic-policy-overlooks-women/
https://www.youtube.com/watch?v=NYILX2kEUqU&t=1283s
https://www.diepresse.com/19502116/wieso-oesterreichs-wohlstand-abnimmt
https://www.derstandard.at/story/3000000232594/mich-st246rt-dieser-umverteilungswahn